2023 jährt sich die Gründung der Republik Türkei zum hundertsten Mal. Lange beinflusste der Gründungsmythos Atatürks den Transformationsprozess. Heute steht die religiöse AKP an der Spitze des Staates. Hieß es früher «soft power» in der Außenpolitik, so verfolgt die Türkei im Syrienkrieg militärisch und politisch eigene Ziele.
Tag der Unabhängigkeit 29.10.1923
Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan
Regierungschef Recep Tayyip Erdogan
Politisches System Präsidialsystem
Demokratie Status-Index (BTI) Rang 77 (von 137) (2020)
Korruptionsindex/CPI Rang 91 (von 180) (2019)
Geschichte
Situation am Ende des Osmanischen Reiches (1300-1923
Seit dem den 18. Jahrhundert wuchs die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit der Europäer durch technologische Fortschritte im Zuge der Industrialisierung. Die Hohe Pforte (Sitz des Sultans in Istanbul) verschuldete sich zunehmend bei den europäischen Mächten. Weil man gleichzeitig die zollfreie Einfuhr westlicher Güter und Textilien erlaubte, zerstörten die Osmanen ihre schwach entwickelte Manufaktur weiter.
Eine Modernisierung des Landes schien unausweichlich. Mit einem Reformedikt, das allen osmanischen Untertanen die Sicherheit von Leben, Besitz und Ehre garantierte und damit durchaus revolutionär war, beginnen die tanzimat-i hayriye (wörtlich: wohltätige Verordnungen). Das Ziel von Sultan Adbülhamid II. war es, den Staatsapparat zu straffen, das Heeres- und Erziehungswesen zu modernisieren, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern und eine einheitliche Verwaltung für die Provinzen zu schaffen. So schickte man Studenten des Ingenieurswesens und der Kriegsführung nach Europa, holte Kanonenexperten und Militärstrategen aus Europa ins Osmanische Reich.
Allein das politisch-philosophische Fundament der europäischen Industrialisierung und die damit verbundene Individualisierung wurden nicht übernommen.
Eine innertürkische Oppositionsbewegung, die Jungtürken, wollten weitgehende Reformen, die jedoch vom Sultan nicht unterstützt wurden, der seinerseits mit Hilfe von Spitzeln versuchte, die Widerstandsbewegungen im Innern zu unterbinden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Osmanen ihr Überleben ihrer Schwäche zu verdanken. Die europäischen Großmächte wachten eifrig darüber, dass der jeweilige Gegner nicht die Kontrolle über den kranken Mann am Bosporus erlangen konnte. Eine große Rolle spielte dabei der Konflikt zwischen Russland und England. Russland wollte die Kontrolle des Bosporus und der Dardanellen und damit den Zugang zum Mittelmeer.
Auch die Geschichte der Türkei nach dem Ende des Osmanischen Reiches ist eine wechselvolle (8min3).
Der Erste Weltkrieg (1914 – 1918)
An der Seite des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns und Bulgariens trat das Osmanische Reich unter Führung des Triumvirats Enver Pascha, Talat Pascha, Cemal Pascha in den 1. Weltkrieg ein.
Ihnen gegenüber standen die Entente-Mächte Frankreich, England, Russland, Serbien, später Italien (1915), Portugal, Rumänien, Griechenland, Japan und die USA (1917).
In diese Zeit fällt auch die systematische Enteignung, Verhaftung, Vertreibung und Ermordung von 1,5 Millionen christlicher Armenier. Die deutschen Bündnispartner wussten von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese wurden billigend in Kauf genommen, das gemeinsame Ziel sollte nicht in Frage gestellt werden. Schweigen als Antwort. Ausmaß und den Vorsatz der Massaker werden von der türkischen Seite trotz vorliegender Dokumente bis heute nicht anerkannt. Der Begriff «Völkermord», international bestätigt, wird abgelehnt.
Zur selben Zeit 1915 erwarb sich der Offizier Mustafa Kemal Pascha später Atatürk genannt, große militärische Verdienste in der Schlacht bei Gallipoli, als die osmanischen Truppen einen Angriff britischer, neuseeländischer und australischer Truppen abwehren konnten.
Kampf um einen souveränen Staat und Gründung der Republik Türkei
Die Niederlage und Kapitulation des Osmanischen Reiches wurde 1918 im Waffenstillstand von Mudros besiegelt. In dessen Folge wurde das Parlament aufgelöst, Istanbul als Sitz des Sultans durch die Briten besetzt, Anatolien unter den Siegermächten aufgeteilt und die Ägäis durch griechische Truppen in Beschlag genommen. Der Vertrag von Sèvres sah die Aufteilung großer Gebiete des ehemaligen Weltreiches unter den Siegermächten vor, der verbleibende Rest sollte halbkolonialen Status bekommen. In §62-64 wird auch die Option eines von der Türkei unabhängigen bzw. autonomen Kurdistans festgestellt, dessen Gebiet in der Region östlich des Euphrats, südlich von Armenien, im Norden Syriens und Mesopotamiens verortet sein soll.
Der Friedensvertrag wurde jedoch nicht umgesetzt. Militärische Auseinandersetzungen in Form einer griechischen Offensive mit britischer Unterstützung folgten in Westanatolien. Die Führung in Ankara verstärkte den militärischen Widerstand zunächst im Osten gegen armenische und russische Ansprüche. Dann wurden 1921 osmanische Truppen nach Westanatolien verlagert, die 1922 den gegnerischen Truppen ihre entscheidende Niederlage beibrachten.
Der Vertrag von Sevres gilt als einer der Auslöser des türkischen Befreiungskampfes (57min16).
Der Waffenstillstand von Mudanya beendete 1922 den türkischen Befreiungskrieg. 1923 wurden im Vertrag von Lausanne die territorialen Grenzen der Türkei festgelegt und der Status der armenischen, griechisch-orthodoxen und jüdischen Minderheiten geregelt. Die Kurden, die im Befreiungskampf an der Seite der osmanischen Heeres gekämpft hatten und die größte Minderheit im Land stellten, wurden in dem Vertrag nicht erwähnt. Von einem eigenen Staat war keine Rede mehr, ihr Gebiet wurde zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran aufgeteilt. Insofern sind die Verhandlungen von Sevrès und Lausanne für die kurdische Bevölkerung gleichzeitig Traum und Trauma und nehmen die in der Folgezeit sich ereignenden Konflikte in der Türkei und der Region vorweg. Im 23.10.1923 rief Atatürk die Republik aus und wurde ihr 1. Präsident.
Atatürk’sche Reformen und Prinzipien
Atatürk begann sofort mit der Umgestaltung der Republik, die das Land in die Moderne führen sollte:
„Es gibt keine zweite Zivilisation; Zivilisation bedeutet europäische Zivilisation, und sie muss eingeführt werden – mit ihren Rosen und Dornen.“
Abschaffung von Sultanat (1922) und Kalifat (1924):
Auflösung der religiösen Gerichtshöfe und Ausbildungsstätten, sowie des Amts des obersten Geistlichen
Einführung der europäischen Gesetzgebung (1926) Einführung des Gregorianischen Kalenders (1926) Einführung des Frauenstimmrechts und der Einehe (1926)
Abschaffung des Islam als Staatsreligion (1928);
Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Basbakanligi) übernimmt Verantwortung für Glaubensfragen
Einführung des lateinischen Alphabets und das Verbot des Fez als Kopfbedeckung (1926-1928)
Verbot des Tragens religiöser Kleidung und des Schleiers
Einführung von Familiennamen und des Sonntags als wöchentlicher Feiertag sowie des passiven Frauenwahlrechts (1934)
Atatürk formulierte seine sechs gestaltgebenden Prinzipien 1934:
Seine Reformen waren für die damalige Gesellschaft revolutionär (57min16)
Nationalismus: Errichtung eines türkischen Nationalstaats Säkularismus (Laizismus):
Trennung von Staat und Religion und damit Austritt der Türkei aus der islamischen Staatenwelt und Abkehr von der islamischen Reichsidee
Republikanismus: Wahl der republikanischen Regierungsform unter endgültiger Absage an die Wiedereinführung einer Sultans- und Kalifatsherrschaft
Populismus: Gleichheit der Bürger ohne Ansehen von Volkszugehörigkeit, Sprache und Glauben. Zugleich sollte der Wille des Volkes als konstitutives Element der Türkischen Republik anerkannt werden.
Etatismus: Bestimmende Rolle des Staates in der Wirtschaft
Reformismus: Postulat einer permanenten dynamischen Umformung von Staat und Gesellschaft.
Diese 6 Pfeiler sind auch im Parteien-Symbol der CHP (Republikanische Partei) enthalten, deren Gründer Atatürk ist.
Grundlage: Politisches Nationenkonzept
Nach dem politischen Nationenkonzept ist die türkische Nation eine politisch begründete Gemeinschaft. Ein gemeinsames Bewusstsein, der Wunsch, in einer Staatsnation zusammenzuleben, die Übereinstimmung von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Überzeugungen machen die Nation aus. „Türke sein“ bedeutet somit eine grundgesetz- bzw. staatsbürgerliche Identität ohne Ansehen von Rasse, Religion, Ethnie und Konfession. Es ist eine Überidentität, die durch eine geographische Lage, Sprache, Kultur und Bewusstsein von Staatsbürgerschaft definiert ist. Türke ist, wer sagen kann: „Ich spreche Türkisch und bin ein Bürger der Türkei!“
In der Praxis hat das türkische Verständnis von Nation aber auch kulturelle – sprich ethnische – und sprachliche Komponenten. In der Präambel der Verfassung heißt es, dass „keine Meinung und Ansicht (geschützt werden könne), die den geschichtlichen und geistigen Werten des Türkentums entgegensteht“. Das bedeutet, dass Annahmen über die Kultur der Gruppe in der Bevölkerung vorhanden sind, die in sprachlicher und ethnischer Hinsicht als Türken bezeichnet wird. Damit wird aus einer Staatsnation eine Kulturnation, deren nationale Kultur ethnisch-türkisch ist. So heißt es z.B. in Artikel 42 Absatz 9 der Verfassung: „keine andere Sprache als Türkisch darf in den Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen als Muttersprache der türkischen Staatsangehörigen gelehrt und unterrichtet werden.»
Das impliziert den problematischen Umgang mit Kurden, Aleviten, die aus dieser Kulturnation ethnisch bzw. religiös ausscheren. Andere Minderheiten, z.B. Griechen, haben durch den Vertrag von Lausanne einen anderen Status.
Zweiter Weltkrieg und Aufnahme deutscher Exilanten
Ismet Inönü, dem Nachfolger Atatürks im obersten Staatsamt, gelangt es, die Türkei durch Lavieren lange aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten, indem er einem Nichtangriffspakt mit Deutschland zustimmte. Erst 1944 trat die Türkei dann, eher symbolisch, auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein.
In diese Zeit aber fällt die Aufnahme ethnisch und politisch verfolgter deutscher Flüchtlinge, während der NS-Diktatur (z.B. Ernst und Edzard Reuter, Paul Hindemith, Eduard Zuckmayer). Diese trugen maßgeblich zum Aufbau der neuen Republik bei. Nach türkischem Selbstverständnis ist dies ein weiterer Ankerpunkt für die engen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei.
1950 bis zur Jahrtausendwende
Politische Instabilität und militärische Putsche
Die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts beschert der türkischen Republik eine wechselhafte Geschichte, geprägt von politischer Instabilität und wechselnden Regierungen. Dreimal putschte das Militär und löste 1960, 1971 und 1980 die jeweiligen Regierungen auf. Begleitet und ausgelöst wurden die Krisen von starken Polarisierungen linker und rechter Gruppierungen sowie wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In Folge wurden Parteienverbote ausgesprochen, politische Betätigung unterbunden, was zu einer bis heute andauernden Schwächung gewerkschaftlicher Aktivitäten führte. Dreimal wurde die Verfassung jeweils nach dem Putsch geändert und durch ein Referendum angenommen.
Auch 1997 kam es erneut zu einem Putsch, der unter «28. Februar-Prozess» oder «postmoderner Coup» firmiert. Das Militär als Hüter der laizistischen Verfassung warf der gewählten islamistischen Regierung unter Necmettin Erbakan Islamisierungsabsichten vor und unterzog die Refah Partisi einem Verbotsverfahren. Die Regierung trat zwar zurück, aber Erbakan selbst und auch Erdogan wurden in dessen Folge mit einem aktiven Politikverbot belegt. Zwei Jahre später wurde die AKP als Nachfolgepartei gegründet.
Zypernkrise
Die Zypernkrise reicht in ihren Wurzeln weit zurück. Aufgrund ihrer Lage war sie immer auch für andere europäische Mächte interessant. 1974 stürzte die damalige griechische Militärdiktatur den zypriotischen Präsidenten Makarios. Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit entsandte daraufhin Truppenverbände nach Zypern, um einerseits die türkische Minderheit auf der Insel zu schützen und andererseits einen Zusammenschluss zwischen Griechenland und Zypern zu verhindern. Nach schweren Kämpfen wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der zur bis heute andauernden Teilung der Insel in zwei selbständige Teile führte.
Das ungeklärte Zypernproblem wirkt auch auf die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei. Auch im Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei versucht der Inselstaat eigene Interessen zu verfolgen.
Wechselnde Parteienbündnisse und steigende Korruption
1982 veränderte sich nach Aufhebung des Parteienverbots die politische Parteienlandschaft und es kam zur Gründung der DSP (Demokratische Linkspartei durch Ecevit), DYP (Partei des rechten Weges durch Demirel), RP (Wohlfahrtspartei durch Erbakan). Die rechtsnationale MHP gewann an Einfluss.
Da sich keine Koalition auf ein Regierungsprogramm einigen konnte und zwischen den politischen
Verantwortlichen immer wieder Spannungen auftraten, wurde eine effektive Politik unmöglich. Korruption und Ämterpatronage wuchsen.
Kurdenkonflikt
Ab Mitte der 1980er bestimmte der Kurdenkonflikt die innenpolitische Debatte in der Türkei. Die Assimilierungspolitik der Türkei führte zur Unterdrückung der kurdischen Kultur und Leugnung der Identität als Bergtürken mit Kurdisch als türkischem Dialekt. Deportierungen waren die Folge, Türken wurden in kurdischen Gebieten angesiedelt. Ihre Dörfer wurden umbenannt und auch Eltern war es verboten, ihren Kindern kurdische Vornamen zu geben. Verlage wurden verboten und die Sprache durfte nicht gesprochen werden. Als Reaktion darauf entstand im Jahre 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Abdullah Öcalan an ihrer Spitze. Sie nahm 1984 im Südosten den bewaffneten Kampf für einen unabhängigen zunächst sozialistischen Staat Kurdistan auf und wollte auch die feudalen Zustände der Region verändern. Die Staatsgewalt reagierte mit militärischen Interventionen und Geheimoperationen, auch gegen die zivile Bevölkerung. Die Menschen migrierten von den Dörfern in die Städte des Südostens und von dort in den Westen des Landes.
Ohne ökonomische Grundlage waren sie auf Unterstützung der eigenen Familien angewiesen. Bei Aufgabe der kurdischen Identität und Anpassung war es möglich, in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur aufzusteigen. Am 16. Februar 1998 nahm der türkische Geheimdienst Abdullah Öcalan, den Führer der PKK, in Kenia gefangen und verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft.
Die AKP erstarkt
2002 markiert den Beginn einer neuen Epoche. Die religiös-konservative AKP („Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt“) erreicht mit ihrem damaligen Parteivorsitzenden Recep Tayyip Erdogan (heute 2015: Staatspräsident) die Mehrheit. In seine erste Regierungsperiode fiel auch die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zur EU und damit verbunden weitgehende innenpolitische Reformen. Seit dieser Zeit stellt die AKP die Alleinregierung, abgesehen von einem Zwischenintermezzo im Juni 2015, als es der AKP nicht gelangt, erfolgreiche Koalitionsverhandlungen zu führen und so im November 2015 nochmals Neuwahlen notwendig wurden.
Die Texte stammen von Martina Simon. Sie arbeitete mehrere Jahre in Istanbul im Bildungssektor und spricht fließend türkisch. Ihre Kernkompetenz liegt in der Kommunikation. Die GIZ und die Autorin ist informiert worden, dass das ehemalige Länderportal auf meiner touristischen Länderseite zur Türkei zumindest textlich weiterbesteht.