Bevölkerungsverteilung
In Istanbul wohnen nach offiziellen Statistiken 13.255.685 Mio. Menschen (ca. 18% der Gesamtbevölkerung). Inoffizielle Schätzungen sprechen von mehr als 15 Mio. Die Hauptstadt Ankara hat 3,8 Mio. Einwohner, gefolgt von Izmir mit 2,6 Mio., Bursa mit 1,5 Mio. und Adana mit 1,3 Mio.
Bürgern. Viele davon sind nicht registriert, was einer genauen Untersuchung die Grundlage entzieht. Die Neuzuzüge siedeln sich in den Randbezirken und Gecokondus (über Nacht gebaute Häuser an), die meist im Zuge von Wahlkampagnen infrastrukturell erschlossen werden. So werden aus ehemals illegalen Wohnungsbauten offizielle Vorstädte, deren „Bauherrn“ zu Eigentümern und Vermietern.
Die Türkei führt (neben Mexiko) die Liste der OECD-Länder an, die die größten regionalen Disparitäten aufweisen. So ist die Arbeitsproduktivität der Marmara-Region viermal höher als die in anderen Landesteilen. Auch innerhalb der Ballungszentren findet man eine ausgeprägte soziale Segregation der Bevölkerung nach Einkommen, Lebensstandard, Religion oder Ethnie. Die Aufnahme Geflüchteter wirkt sich auf die Regionen Gaziantep, Izmir und Istanbul aus und der Zuzug von 4 Mio. Menschen verändert auch die dortigen Sozialräume.
Verkehrswege
Die Türkei soll zu einem internationalen Drehkreuz ausgebaut werden. Deshalb erfolgen Investitionen in Verkehrswege in Milliardenhöhe. Inzwischen gibt es mehrspurige Schnellstraßen mit einer Gesamtlänge von 21300 km, während es bis zum Jahr 2003 nur 6100 km waren. Die entstandenen Ost-West- und Nord-Süd-Achsen verbinden inzwischen 74 der 81 Provinzen.
Während die türkische Bahn jahrzehntelang vernachlässigt wurde, wird das Bahnnetz derzeit kräftig ausgebaut. Besonders zwei Hochgeschwingkeitstrassen zwischen Ankara und Istanbul bzw. zwischen Ankara und Konya verkürzen die Fahrzeiten erheblich. Geplant ist eine Verlängerung der Strecke bis an die bulgarische Grenze, um auch eine Schienenanbindung an europäische Schienenwege zu gewährleisten. Fertig gestellt ist auch das Projekt Marmaray, ein Eisenbahn-Tunnel, der Asien mit Europa verbindet und unter dem Bosporus verläuft.
Da viele Schienenstrecken über weite Kilometer hinweg nur eingleisig und ohne Kreuzungsmöglichkeit sind, sind die Fahrgast- und Frachtzahlen bislang nur gering. So reist Mehrheit der Bevölkerung auf den Straßen mit Bussen, die alle Landesteile bis in die kleinsten Dörfer und schneller als die Bahn erreichen.
Flughäfen gibt es über das ganze Land verteilt, viele davon sind international zu erreichen. Ein weiteres Großprojekt der derzeitigen Regierung wr ein «Superflughafen» in Istanbul, der der weltweit größte werden soll. Die Eröffnung hat im Oktober 2018 planmäßig stattgefunden. Turkish Airlines ist die nationale Fluggesellschaft.
Türkische Häfen ihre Umschlagzahlen, weil 80% des steigenden Außenhandels auf dem Seeweg bewältigt wird. Die neuen Anlagen sind durch deutliche Spezialisierung gekennzeichnet. Die Privatisierung ist noch nicht überall durchgängig und das Fehlen von Logistikzentren in Verbindung mit anderen Verkehrsträgern behindert den Weitertransport der Güter auf dem Landweg derzeit noch.
Multiethnizität und Multireligiosität – das sind die Spannungsfelder, mit denen sich die gesellschaftlichen und politischen Gruppen auseinandersetzen müssen. Auf Vielfalt basiert aber auch der kulturelle Reichtum des Landes und zeigt sich in einem regen Kulturschaffen. Musik gehört zum Leben und auch die Kunstszene explodiert.
Alphabetisierte Erwachsene 95,7% (2015)
Bedeutende Religionen
Islam: 98% Muslime (80% Sunniten, 20% Aleviten)
Städtische Bevölkerung 74,3%
Lebenserwartung (w/m) 80 / 75 Jahre (2017)
Gender Inequality Index
Rang 69 von 160 (2017)
Anzahl der Geburten
2,05 / Frau (2016)
Kindersterblichkeit
12,7 / 1000 Lebendgeburten (2016)
Gesellschaft
Ethnische Gruppen und Minderheiten
Zu den Hauptbevölkerungsgruppen in der Türkei zählen Türken, Kurden und Araber. Minderheiten sind Armenier, Griechen, Juden, Bosnier, Zaza, Lasen, Tscherkessen, Turkmenen, Jesiden, Roma und zahlreiche weitere Ethnien, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung gering ist. Türkisch ist Nationalsprache, als ehemaliger Vielvölkerstaat existieren insgesamt 36 weitere Sprachen, die innerhalb der unterschiedlichen Volksgruppen gesprochen werden.
Während im Osmanischen Reich die nichtmuslimischen Minderheiten und ethnischen Gruppen in Millets (Religionsgruppen) meist konfliktfrei nebeneinander lebten (eigene Gerichtsbarkeit, Kopfsteuer-Pflichtabgaben an den Sultan, kulturelle Freiheit) begann durch Homogenisierungstendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Prozess der Türkisierung. In dessen Folge verschmolz das Volk der Türken mit dem sunnitischen Islam.
Die größte ethnische Minderheit ist die Gruppe der Kurden. Ihre Heimatregion ist der Südosten, bislang ein Armenhaus, das an der Prosperität des Westens noch nicht teilhaben konnte. Die Kurdenfrage, d.h. die Anerkennung ihrer kulturellen Rechte, spaltet die Nation eit Jahrzehnten. Ein Ende der Konflikte ist noch nicht in Sicht, doch die Zeichen standen im Sommer 2015 nicht schlecht, Frieden und Gleichberechtigung auf die politische Tagesordnung zu setzen. Der positive Trend ist momentan abgekühlt, die Waffen sprechen wieder auf beiden Seiten. Im Zuge der aufgeflammten Auseinandersetzungen wurden 2015/2016 500 000 Menschen aus der Region Diyarbakir vertrieben.
Auch auf einer politischen Ebene hat der Konflikt seine Fortsetzung erfahren, viele der kurdischen Abgeordneten, die der HDP angehören sind verhaftet bzw. mussten ihre Immunität aufgeben.
Seit 2015 ist die Bevölkerung der Türkei um 4 Millionen Menschen gewachsen. Neben 3,6 Mio. Syrern und Syrerinnen, die ihr Land im Zuge des Bürgerkriegs verlassen haben, zählt die Türkei nun auch 170 000 afghanische und 142 000 irakische Migrantinnen und Migranten zu ihren Bewohnern.
Unterschiedliche Lebenswelten
Der neue türkische Mittelstand
Seit dem Erstarken der AKP hat sich der bislang säkular orientierte Mittelstand um eine Dimension erweitert. Dr. Heinz Kramer sieht hier vier Kategorien entlang der Linien „religiös – laizistisch“ und
„modern – traditionell“.
Zum laizistischen Lager gehören in erster Linie Angehörige des Staatsapparats, d.h. Beamte, Militärs, Lehrer, Hochschul- und Medienvertreter, die geprägt sind von einem staatszentrierten Denken und aus dieser Perspektive urteilen. Dann gibt es einen modernen Mittelstand der großstädtischen Ballungsräume. Deren Vertreter sind meist Angehörige der jüngeren Generation, sie sind als Angestellte oder Selbständige in modernen Industrie-Unternehmen, im Dienstleistungssektor, in der Kommunikationswirtschaft, in der Medienbranche oder im Bildungsbereich tätig. Ihr Lebensstil ist modern, westlich, konsumorientiert. Staatsideologie und Religion haben keine besondere Bedeutung. Sie sind im eigentlichen Sinne säkularisiert und haben weder an Religion noch an Politik Interesse. Im weitesten Sinne befürworten sie die liberal-demokratische Europäisierung, mit der die AKP in den Wahlkampf gezogen ist.
Der moderne Mittelstand des konservativ-religiösen Lagers führt ein von religiösen Werten bestimmtes Leben, in dem Glaube eine wichtige Rolle spielt. Religion ist allerdings privat und soll nicht durch staatliches Handeln im Sinne einer gesellschaftspolitischen Vorgabe vorgeschrieben werden.
Die Anhänger der traditionellen Linie dieser Richtung haben ihre Wurzeln oft in der Milli Görus- Bewegung, der Hauptorganisation des klassischen politischen Islam. Wir finden sie als Fraktion der AKP; sie bilden den Kern eines religiös-traditionellen Mittelstands anatolischer Prägung, dessen Angehörige die Leitlinien der islamischen Religion durchaus als gesellschaftsweit verbindliche Verhaltensrichtlinien verstehen.
Daneben gibt es die Unterscheidung in dörflich und städtisch. Oft werden die Attribute „ungebildet“,
„arm“ für Bewohner der ländlichen Regionen verwendet. «Städtisch» ist als Begriff ebenfalls zu hinterfragen, denn ein Großteil der Stadtbewohner lebt in Vorort- und Randbezirken, die von der bourgeoisen städtischen Bevölkerung ebenso weit entfernt sind wie ein anatolisches Dorf.
Als Fazit ist zu sagen, dass die jeweiligen Schichten von einer ausgeprägten Segregation geprägt sind. Eine räumliche Überschneidung z.B. von säkular und religiös ist eine Erscheinung der neueren Zeit. Das Pendant dazu ist West – Ost und wird identisch attribuiert.
Mit Spannung erwartet wird die die Generation Z, die nur die Präsidentschaft Erdogans kennt, künftige Wahlen beeinflusst. Forscher schreiben ihr eine bedeutende Rolle zu.
Lebenswirklichkeiten in Ost und West
Zivilgesellschaft
Schon immer haben sich türkische Interessenvertretungen auch sozialen und gesellschaftlichen Problemen und Projekten gewidmet, dies jedoch meist auf konkrete Vorhaben oder Bedürfnisse bezogen. In diesen Bereich fällt auch das ausgeprägte Stiftungswesen in der Türkei, das religiös oder sozial motiviert die Teilhabe von weniger Begünstigten an Bildung, Kultur, Versorgung ermöglicht.
Zivilgesellschaftliches Engagement im Sinne der politischen Einflussnahme auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft ist in der Türkei eine neuere Erscheinung und seit den 90er Jahren spürbar.
Besonders bekannt und einflussreich sind die Verbände, die sich dem Thema „Geschlechter- Gerechtigkeit“ gewidmet haben. Die Organisation KA-DER beschäftigt sich mit «Frauen- und Kinderrechten». Eine ihrer medienwirksamen Kampagnen zielte darauf ab, die Anzahl der weiblichen Parlamentsmitglieder zu erhöhen. Videospots und Plakate zeigten die Aktivistinnen, wie sie mit einen angeklebten Schnurrbart kreativ darauf hinwiesen, ob man wohl ein Mann sein müsse, um ins Parlament zu kommen.
Bei der Neufassung des Familienrechts waren sie ebenfalls beteiligt und erreichten, dass Paragraphen wie „Das gesetzliche Oberhaupt der Familie ist der Mann“ gestrichen wurden. Derzeit steht ebenfalls auf der Agenda der AktivistInnen eine Kampagne, die die Öffentlichkeit aufrütteln will, gegen das in naher Zukunft das Parlament passierende Abtreibungsgesetz zu protestieren. Die Aktion steht unter dem Motto «Mein Körper – meine Entscheidung».
Mor Cati ist eine Vereinigung, die sich um den Schutz von Frauen vor Gewalt kümmert. Auf ihre Initiative hin kam es zur Gründung von Frauenhäusern, in denen misshandelte Frauen Schutz und Unterstützung erhalten. Mit öffentlichen Auftritten und Slogans wie „Erkek vuruyor – Männer schlagen“ machen sie auf das Thema Gewalt in der Familie aufmerksam.
Seit mehreren Jahren sind die Gay-Pride-Paraden verboten. Lamda Istanbul setzt sich als NGO für die Rechte von LGBTI-Menschen ein.
Auch das Thema Umweltschutz findet langsam Eingang in bürgerschaftliches Engagement. Caretta, die Schildkröte heimisch an der lykischen Küste, sollte Ende der 80er dem Tourismus public domain weichen, bis sich engagierte Bürger für sie erfolgreich einsetzen.
Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist mit dem Plan der türkischen Regierung, in Akkuya einen Atomreaktor zu bauen, etwas aufgeflammt, aber auch die Proteste gegen die Staudamm-Projekte verhallen abseits einer intellektuellen Großstadtschicht und den Betroffenen vor Ort ebenfalls ungehört.
in diesem Bereich stehen ideologische Grenzziehungen gemeinsamem Handeln im Weg. Häufig sind die Akteure in politischen Lagern verortet und bekämpfen sich anstelle sich gemeinsam aufzustellen: Religiöse – säkulare Frauenverbände, staatstreue – sozialistische Gewerkschaften, säkulare Unternehmerverbände TÜSIAD – religiöser MÜSIAD.
Eine Ausnahme und damit einen Neubeginn bürgerschaftlichen Engagements bildeten die Proteste unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen um die Vorkommnisse im istanbuler Gezi-Park. Begonnen im Frühling 2013 als Widerstand gegen die Abholzung von Bäumen des Parks zugunsten eines Bauprojekts weiteten sich die Aktionen auf andere Städte aus. Über soziale Medien verbreiteten sich die Bilder von Polizeigewalt, als Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vorgingen. Diese führten dazu, dass Menschen unterschiedlicher ideologischer Richtungen und ohne Mitgliedschaft in Parteien sich verbündeten und gegen die selbstherrliche und autokratische Ausrichtung der AKP öffentlich protestierten. Dabei nahm der Widerstand durchwegs auch kreative Formen an. Der Staat hat dem Philanthropen und Mäzen Osman Kavala vorgeworfen, diese Proteste finanziell unterstützt zu haben und ihn wegen umstürzlerischer Aktivitäten vor Gericht gebracht.
Seine Stiftung Anadolu Kültür unterstützt zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure in den Bereichen Kultur und Kunst.
Sozialpolitik
Die Politik bemüht sich seit 1999 um den Aufbau eines Sozialversicherungssystems. Eine Reform des Sozialversicherungswesens trat 2006 in Kraft. Das System ist jedoch noch nicht ausreichend leistungsfähig. Die Familien bilden weiterhin das soziale Netz, wenn die staatlichen Mittel nicht genügen. Dies ist umso bitterer für die zehn ärmsten Provinzen Ostanatoliens, in denen gerade mal ein Prozent des BIP erwirtschaftet wird. Staatliche Fürsorge wie Kindergeld, Sozialhilfe oder Pflegeversicherung kann bislang nicht in Anspruch genommen werden.
Die Arbeitslosenversicherung wurde im Juni 2000 eingeführt. Ihre Ausschüttungskapazität ist noch unzureichend, weil die Zahl der Beiträge leistenden Arbeitnehmer zu gering ist, um die vielen Arbeitslosen/Unterbeschäftigten ausreichend zu unterstützen. Außerdem konnte noch kein Kapital aufgebaut werden. Prinzipiell haben Arbeitslose Anspruch auf Lohnersatz, Kranken- und Mutterschaftsbeiträge, Arbeitsvermittlung und Aus- bzw. Weiterbildung. Die Pflichtbeiträge liegen für Arbeitnehmer und Staat bei 2%, Arbeitgeber bezahlen 3%. Die Höhe des Arbeitslosengeldes beträgt 50% des Nettoeinkommens und wird maximal 300 Tage bezahlt. 2014 betrug die Arbeitslosenquote 10,1%.
Das türkische Arbeitsrecht weist Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Vergleich mit dem deutschen Arbeitsrecht auf.
Rentenhöhe und Renteneintrittsalter werden derzeit neu definiert (Gesetz zur Reform der sozialen Sicherheit 1999, Gesetz zur sozialen Sicherung 2008). Bislang konnten Frauen nach 20 Jahren in Rente gehen und Männer nach 25 Jahren beruflicher Tätigkeit – unabhängig vom Alter des jeweiligen Antragstellers. Die Neuordnung mit langen Übergangsbestimmungen für bereits Versicherte sieht vor, dass Neu-Versicherte künftig erst mit Vollendung des 65. Jahres ihr Rentenalter erreicht haben.
Migration
Binnenmigration
Die Türkei wurde lange von außen als Auswanderungsland (Bevölkerungsaustausch und Arbeitsmigration nach Deutschland) wahrgenommen. Dabei hat das Thema Migration auch eine starke landesinterne Komponente. Tatsächlich beschäftigt eine intensive Binnenmigration die Türkei auf politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene. Migrationsbewegungen innerhalb der Türkei beschreiben zum einen Wanderungen aus südost-anatolischen Dörfern in die Städte des Südostens z.B. nach Van, Diyabakir oder Hakkari, deren Bevölkerung zwischen 1990 und 2000 um jährlich um 3,2% gestiegen ist. Ursache dafür waren gewaltsame Auseinandersetzungen um den Kurdenkonflikt, der bis in die kleinsten Dörfer griff. Militärische Angriffe auch gegen die Zivilbevölkerung, Terror und Druck gingen einher mit wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und Armut. Menschen verließen ihre Siedlungsgebiete oder wurden von staatlicher Seite zum Verlassen aufgefordert. Segensreich erschienen die Ballungsräume der Provinzen. Die Hoffnungen bewahrheiteten sich meist nicht. Arbeit, Sicherheit konnten die überforderten Städte nicht für alle bieten.
„Der Boden Istanbuls ist golden – Istanbul’un topragi altin“ heißt es. So wuchsen die Metropolen Istanbul zwischen 1990 und 2000 um 3,3% jährlich bzw. Antalya um 4,2%. Häufig haben schon einige Bewohner der ehemaligen Dörfer und Familienangehörige den Weg angetreten und unterstützen die Neuankömmlinge aus der eigenen Heimat. Diese landsmannschaftlichen Bindungen (Hemserlik) sind das soziale Netz für die Migranten, die häufig nur auf dem informellen Arbeitsmarkt unterkommen, ohne sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder als Tagelöhner unterwegs.
Die Zuwanderer finden Platz in Vorort-Siedlungen, sogenannten „Gecekondus – über Nacht gebauten Häuser“, oft ohne jegliche Infrastruktur und einfachst zusammengezimmerte Häuser. Im Zuge von Wahlen werden diese Gebiete dann erschlossen und legalisiert. Die Zuwanderer bleiben unter sich und gehen keine Verbindung mit der städtischen Mehrheitsbevölkerung ein. Ein Aufstieg ist in der ersten Generation unmöglich, die 2. Generation schafft es ebenfalls selten, denn Bildung und familiäre Finanzkraft sind unauflöslich miteinander verbunden. So bleibt nur der Rückzug in die eigenen Community und die Bewahrung der meist konservativen Wertewelt der anatolischen Dörfer.
Arbeitsmigration nach Deutschland
Dass Menschen in Deutschland ein «richtiges» Bild von der Türkei zu haben glauben, hängt mit dem Thema «Arbeitsmigration» zusammen. Die mehr als 2,5 Mio Menschen türkischer Herkunft in Deutschland bestimmen das Bild von einem Land, das weitaus vielschichtiger ist.
Im Verlauf der vergangenen 50 Jahre sind zahlreiche Türken nach Deutschland gekommen, um ihren Aufenthalt vorübergehend oder dauerhaft aus beruflichen, politischen oder familiären Gründen hier zu gestalten. Dies führte zu einem weiteren Meilenstein der engen und manchmal auch komplizierten Beziehungen beider Länder und ihrer Menschen. Nach einem durchwegs freundlichen und europäisch geprägten Bild von den Türken und der Türkei noch in den 50er und 60er Jahren – auch in den Medien – wandelte sich das Bild.
Brandanschläge in Solingen und Mölln gegen hier lebende Türken schockierten die Bevölkerung. Abgrenzung und Diskriminierung beeinflussten das Zusammenleben, eine Spaltung in deutsche und türkische Parallelgesellschaften entwickelte sich. Der mediale Fokus lag schwerpunktmäßig auf kritischen Ereignissen. Die Frage «Wie kann das Zusammenleben gelingen?» ist erst eine jüngere Haltung. Deutschland tat sich schwer mit der Vorstellung ein Einwanderungsland zu sein. Damit fand das Thema «Integration» erst spät auf die Agenda zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Gruppen Eingang.
Mit Sorge betrachten Politiker, Ökonomen und Wissenschaftler das Phänomen des „Brain Drain“, d.h. gut ausgebildete junge Türken und Türkinnen verlassen Deutschland aufgrund von geringen Aufstiegs- und Karriere-Chancen, von Stigmatisierung und Ausgrenzung in Alltag und Beruf. Die Türkei heißt diese Rückkehrer willkommen und gibt ihnen die Möglichkeit, ihr Engagement und ihre Kreativität einzusetzen. In Istanbul gibt es mittlerweile Rückkehrer- Stammtische – Netzwerk und Austausch inklusive.
Auch der türkischen Gesellschaft sind ihre Deutschländer (Almanci) oft fremd. Für die modernen Eliten in den Großstädten sind sie rückständig und konservativ, ungebildet. Für die konservativen Inlandstürken zu frei und zu modern, keine richtigen Türken mehr. Lange betrachtete man die Almancilar auch neidvoll, weil ihnen – vermeintlich – ein Leben in ökonomischer und sozialpolitischer Sicherheit in Deutschland zur Verfügung stand.
Türkei als Einwanderungs- und Transitland
Seit Gründung der Republik (1923) war die Türkei Ziel eines erheblichen und konstanten Zustroms ethnischer Türken, d. h. muslimischer oder türkischsprachiger Minderheiten, aus den Gebieten ihres Vorgängerstaates, dem Osmanischen Reich. Während diese Form der Einwanderung im letzten Jahrzehnt weitgehend zum Erliegen kam, gewannen neue umfangreiche Wanderungsbewegungen an Bedeutung.Sie setzten sich aus Flüchtlingen und Asylbewerbern, irregulären Arbeitsmigranten und Transitmigranten aus Teilen des Mittleren Ostens, Afrikas und Osteuropas zusammen.
Seit Ausbruch des Krieges in Syrien und dem Irak suchten 3,6 Mio Menschen in Flüchtlingslagern und den Bezirken der Großstädte nach Schutz. Die Türkei steht damit weltweit an 3. Stelle aller Länder, die Geflüchtete aufnehmen.
Zunächst als als «Gäste» bezeichnet und erhielten sie Aufenthalt für einen begrenzten Zeitraum. Mittlerweile wird damit gerechnet, dass sich viele davon dauerhaft ansiedeln. Dies hat Auswirkungen auf die türkische Gesellschaft und die Wirtschaft vor allem in den Gebieten des Südostens um Gaziantep und in den Großstädten.
Gleichzeitig ist die Türkei als ein wichtiger Partner des EU-Abkommens, das die Fluchtbewegungen in den Westen begrenzen soll und illegal nach Griechenland eingereiste Flüchtlinge zurücknimmt.
Bevölkerungsaustausch und Vertreibung
Am Ende des Osmanischen Reiches, während der Balkankriege (1912-1913) und zu Beginn der Republik (1922-1923) kam es immer wieder zu einem Bevölkerungsaustausch zwischen der griechisch-orthodoxen Bevölkerung, die das Gebiet der heutigen Türkei verlassen musste und der türkischen Bevölkerung in Griechenland. Zwischen 1915 und 1916 verloren durch Deportation und Vertreibung große armenische Bevölkerungsteile ihr Leben.
Bevölkerungsentwicklung
Die Bevölkerung der Türkei ist seit Gründung der Republik ständig gestiegen. Heute leben etwa 77 Mio. Menschen auf diesem Gebiet (1945: 18,8 Mio., 1960: 27.8 Mio., 1980: 44,7 Mio.). Die Zeit des Wachstums scheint sich zu verlangsamen, denn die derzeitige Geburtenrate liegt im Landesdurchschnitt bei 2,0, der Bevölkerungszuwachs stagniert bei 1,5%. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Da diese Personengruppe demnächst in die Familiengründungsphase eintritt, ist weiterhin mit einem Anstieg der Bevölkerung zu rechnen. Für 2030 gilt eine Prognose von 85-90 Mio. Einwohnern.
Dies bedeutet auch für den Arbeitsmarkt eine Herausforderung, zumal die Jugendarbeitslosigkeit bereits 20% beträgt und Modernisierung und Internationalisierung, Rationalisierung das Problem vergrößern dürften. Mit den Jahren stieg auch der Verstädterungsgrad, so dass heute mehr als 70% der Menschen in urbanen Räumen leben. Zentren sind Istanbul und die Marmara-Region, Izmir, Ankara, Adana und Gaziantep.
Haushalte werden zunehmend kleiner, auch wenn dies regional sehr unterschiedlich ist. In den westlichen Ballungsräumen Istanbul/Izmir leben durchschnittlich 3,7 Personen in einer Familie, im östlichen Van dagegen 7,5 Menschen.
Die Wanderungsbewegungen von den Dörfern des Ostens in die Städte und von Anatolien in Richtung Westen machen sich ebenfalls in der Bevölkerungsstatistik bemerkbar.
Bildung
Atatürk maß der Bildung bei der Gründung und der Entwicklung des türkischen Staates eine herausragende Bedeutung bei. „Der wichtigste Führer im Leben ist das Wissen“ ist einer seiner vielzitierten Sätze. Türkische Sozialisation erfolgt über die Schule. Bildung hat einen hohen Stellenwert in den Augen der Menschen. Lehrer genießen allerorten Respekt. „Hocam – mein Lehrer“ als Anrede zeigt die Anerkennung einer Gesellschaft für diesen Beruf. Die Wertschätzung spiegelt sich nicht im – eher dürftigen – Gehalt wieder. So sehen sich Lehrer gezwungen, nach der Schule eine andere Tätigkeit auszuführen, um das Familieneinkommen zu sichern.
Wie wichtig Bildung für den Aufstieg ist, zeigt auch die Tatsache, dass ganze Familien und ihre Verwandten große Anstrengungen unternehmen, um einem Kind eine Hochschulausbildung zu ermöglichen. Angesichts des Fehlens eines beruflichen Ausbildungssystems ist der Hochschulabschluss die einzige Möglichkeit, aufzusteigen oder einen Arbeitsplatz zu erhalten, dessen Vergütung die Existenz sichert. Bildung ist also ökonomisch betrachtet an Herkunft gebunden und auch regional unterschiedlich. Während im Westen die materielle Ausstattung der Schulen und die Lehrerversorgung ausreichend sind, herrscht im eher unterentwickelten Südosten Unterrichtsausfall aufgrund von Lehrermangel. In einer ohnehin prekären Lebenssituation ist auch das Interesse, Bücher und Lehrmaterialien anzuschaffen oft existentielleren Bedarfen geschuldet.
Hinzu kommt, dass die vorherrschenden Lehrmethoden in der Regel das Auswendiglernen befürworten und kritisches Denken nicht in den Lehrplänen verankert ist. Bildungspolitische Reformen sind laut PISA- Studie: Mittelerhöhung, Reform der Lehrerausbildung, Stärkung des berufsbildenden Sektors und eine praxisnahe Verzahnung mit der Wirtschaft. Quantitative Ergebnisse sind bereits sichtbar: z.B. Anstieg des vorschulischen Schulbesuchs.
Das Schulsystem wurde 2012 geändert. Nach einer 4-jährigen Grundschulzeit schließen sich 4 Jahre Mittelstufe an. Anschließend kann in weiteren 4 Jahren die Oberstufe besucht werden. Bereits nach der Grundschule erfolgt somit der Wechsel auf allgemeinbildende bzw. berufsbildende Schulen. Religiöse Imam- Hatip-Schulen gehören zu den berufsbildenden Einrichtungen genau so wie technische oder wirtschaftlich ausgerichtete Schulen. Der türkische Unternehmerverband begrüßt die Reform, um dem wachsenden Bedarf an künftigen Fachkräften zu decken. Auch die Anhänger der AKP oder religiös orientierte Eltern profitieren von der Veränderung, weil die islamische Inhalte und religiöse Berufsorientierung schon ab Klasse 4 stattfinden können. Säkular eingestellte Kreise halten die Reform für eine «versteckte» Maßnahme, um die Gesellschaft zu fundamentalisieren.
Über den Wechsel an eine weiterführende Schule entscheidet eine Aufnahmeprüfung. Je nach Ergebnis kann der Schüler an einer sehr oder weniger anerkannten Schule weiter lernen. Begehrt sind die Gymnasien mit verstärktem Fremdsprachenunterricht, die sogenannten Anadolu Liseleri. Dem eigentlichen Unterricht wird ein Jahr Fremdsprachenunterricht vorgeschaltet. In Istanbul gelten auch die Auslandsschulen der verschiedenen Länder als sehr attraktiv: Alman Lisesi, Robert Koleji, Galatasaray Lisesi, Avusturya Lisesi und das Istanbul Lisesi.
Das Abschlusszeugnis erlaubt die Teilnahme an der landesweiten, Universitätsaufnahmeprüfung. Bestehen kann nur, wer sich mindestens zwei Jahre außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts darauf vorbereitet und in „Dershanes – Lerninstituten“ kostenpflichtige Wochenend- oder Abendkurse besucht hat. Die Prüfung entscheidet über Studienfach und -ort. Wer gut gelernt hat, kann an einer renommierten Universität im Westen Medizin oder Ingenieurswesen studieren. Wer mit niedriger Punktzahl die Prüfung besteht, fängt im Osten ein Studium an.
Insgesamt gibt es 101 staatliche, 70 private und 4 Universitäten der Türkischen Streitkräfte. 2013 studierten 4,9 Millionen junge Menschen, weitere 80.000 sind Doktoranden. Bis zum Jahr 2025 werden 5,2 Millionen erwartet. Internationale Hochschulkooperationen nehmen zu, mit Deutschland bestehen vielfältige Projektkooperationen zu unterschiedlichen Themen. Auch der Weiterbildungsmarkt steht vor der Internationalisierung.
Sorge bereiten vielen Wissenschaftlern Einschränkungen und Zensur in Folge der Gezi-Proteste 2013 und im Nachgang zum des Putsch- Versuch 2017.
Gesundheitswesen
Die vorhandenen Systeme sind nicht ausreichend, um eine medizinische Versorgung auf angemessenem Niveau für alle Bürger zu gewährleisten. Derzeit wird um eine Reform der Krankenversicherung gerungen, das heißt die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auf einer beitragsfinanzierten Grundlage. Dies erscheint angesichts der großen Anzahl der in der Schattenwirtschaft tätigen Arbeiter zumindest herausfordernd.
Das staatliche Gesundheitswesen besteht aus Krankenhäusern (Träger: SSK, Gesundheitsministerium, Universitäten), Polikliniken, Gesundheitsstationen (Variante 1: mit Pflegekraft, Variante 2: mit Arzt), niedergelassenen Ärzten und weiteren ambulanten Einrichtungen.
Für die Versicherten ist die Behandlung kostenlos. Allerdings sind materielle und personelle Ausstattung oft mangelhaft, so dass mehr als eine ausreichende Basisversorgung nicht möglich ist. Selbst in Krankenhäusern sind die Patienten auf die Pflege durch Verwandte angewiesen.
Medikamentenengpässe sind nicht selten. Auf 1100 Einwohner kommt ein Arzt, dass liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt (350 Einwohner pro Arzt).
Nicht Sozialversicherte haben keinen Anspruch auf Leistungen. Für sie und Kinder unter 18 Jahren gibt es die Grüne Karte (yesil kart), mit der ärztliche Hilfe von den Ärmsten beansprucht werden kann. Daneben gibt es ein privates ärztliches Versorgungssystem, das gehobenen internationalen Standards genügt. Auch die Krisenmedizin ist auf einem guten Stand. Die Aidsrate des Landes ist obwohl ansteigend, eher gering.
Gender
Der Alphabetisierungsgrad von Frauen liegt bei 92,5, in Unterschied dazu sind nur 1,4% (2015) der Männer des Lesens und Schreibens unkundig. Bemühungen, die Schulbesuchsrate von Mödchen zu erhöhen, waren wirksam, auch wenn die Anzahl der Mädchen in weiterführenden Schulen und an den Universitäten noch erhöht werden kann.
Die Verbesserung der Situation von Frauen ist jedoch eine der großen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Die Global Gender Gap Studie des World Economic Forums misst den Wert für Geschlechtergerechtigkeit hat festgestellt, dass in den Bereichen Teilhabe am Arbeitsmarkt, Equal Pay, Frauen in Führungspositionen der Weg zur Gleichberechtigung noch weit. Auch die Anzahl von Frauen in politischen Ämtern lässt noch zu wünschen übrig. Dabei war mit der Gründung der Republik 1923 der Boden bereitet für eine formale Gleichstellung: pro-westlich, sichtbar im öffentlichen Leben und gut ausgebildet sollten die Frauen sein, um auf diesem Weg zum Aufbau der neuen Staates beizutragen.
Frauen und Recht
Die rechtliche Stellung der Frau ist seit der Neufassung des Familienrechts auf EU-Niveau. 1988 wurde ein Gesetz über innerfamiliäre Gewalt erlassen: Dritte Personen können im Namen von Frauen Anzeige erstatten. Die Polizei kann des gewalttätigen Partner den Zugang zur gemeinschaftlichen Wohnung verbieten.
Seit 2002 sichert ein neues türkisches Zivilgesetzbuch die Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe: Gestrichen wurde: „Das Oberhaupt der ehelichen Gemeinschaft ist der Ehemann“, „Die Wahl des ehelichen Wohnsitzes obliegt dem Ehemann“, „Vertreter der ehelichen Gemeinschaft ist der Ehemann“, „Im Falle einer Uneinigkeit in der Vormundschaftsfrage ist dem Willen des Ehemannes Vorrang zu gewähren“.Das Heiratsalter für beide Geschlechter wurde auf 17 hochgesetzt und „Gütertrennung mit Errungenschaftsbeteiligung“ ist der gesetzliche Güterstand.
Die Umsetzung ist noch nicht ausreichend in den Köpfen der Polizei, Staatsanwälte und Richter angekommen. Noch immer finden von Gewalt betroffene Frauen keine Unterstützung der Behörden und der Gesellschaft.
Frauen und Politik
Atatürk sah für Frauen eine herausragende Stellung beim Aufbau der neuen Republik vor. Schon 1934 führte er das aktive und passive Frauenwahlrecht (lange vor vielen europäischen Ländern) ein.
Trotzdem behaupten Wissenschaftler und Experten diverser Think Tanks, dass die Situation der Frauen noch nie so positiv war wie heute und entzaubern damit den Atatürk’schen Gründungsmythos von der Gleichberechtigung der Frau.
Bereits zu Beginn der 90er Jahre gab es mit Tansu Ciller eine erste weibliche Ministerpräsidentin.Trotzdem sind im türkischen Parlament vom Juni 2015 nur 98 weibliche Abgeordnete (18%) vertreten. Dabei stellt die prokurdische HDP 40 weibliche Mandatsträgerinnen.
Insgesamt nimmt der Anteil der Frauen in allen Parteien zu. Aufgrund der der schlechten Listenplatzierung gelingt der Sprung ins Parlament oft nicht.
Familie als kollektiver Identitätsfaktor
Familie gilt als zentraler Wert der türkischen Gesellschaft. Sie ist die kleinste autonome Einheit des menschlichen Lebens. In der Idealvorstellung gehören Kinder zu einem erfüllten Leben.
Bezogen auf die Scheidungsraten ist ein Stadt-Land-Gefälle zu beobachten. Die landesweite Scheidungsrate beträgt 11%, in Istanbul sind es 13% und im südöstlichen Van 1%. Dagegen sank erfreulicherweise der Anteil der arrangierten Ehen um 54%, obwohl dies immer noch eine bewährte Praxis ist. In der Bewertung unterschieden werden kann zwischen Zwangsehen und arrangierten Ehen.
Es lassen sich verschiedene Formen des familiären Zusammenlebens finden. Dabei bestimmen die ökonomischen Verhältnisse die Werthaltungen zwischen traditionell und postmodern. Seit der Entstehung eines religiösen Mittelstandes greift diese Grenzlinie nicht mehr zwangsläufig und es finden auch in gesicherten Verhältnissen traditionell lebende Familien.
Der Großfamilienverbund über mehrere Generationen hinweg ist in den Gebieten des Südostens und unter Kurden zu finden. Dabei steht den Großclans eine herrschende Familie vor, während die anderen Familien die Felder bearbeiten. Die auf feudalen Strukturen basierenden Prinzipien greifen in die familiären Belange der Gemeinschaft ein. Es gibt streng abgegrenzte Räume für die Geschlechter und eine starke Segregation zwischen Männern und Frauen, zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre.
Auch in den Dörfern oder den Randbezirken der großen Städte (Gecekondus) herrscht ein enger Zusammenhalt und eine starke soziale Kontrolle über die eigene Familie. In der dörflichen Umgebung war man sehr stark angewiesen auf die Nachbarn und damit der Anpassung verpflichtet. Selbst nach Abwanderung in die Städte blieb dieser Ehrbegriff als Überlebenschance in der neuen Welt erhalten. Religion wurde zum Mittel im sozialen Kampf. Mit dem Aufstieg verbindet sich die Unterstützung von bedürftigen Familienmitgliedern.
Moderne Lebensformen findet man bislang nur vereinzelt und nur in den Großstädten. Die Anzahl von Singles, allein lebenden Frauen, Ein-Kind-Familien, Paaren nimmt jedoch zu.
Gesellschaftliche Strukturprinzipien
Saygi und Sevgi
Saygi (Respekt) und sevgi (Fürsorge) regeln das hierarchische Verhältnis von oben und unten innerhalb der Gesellschaft, am Arbeitsplatz und innerhalb der Familie. Autorität entsteht aufgrund von Alter, Geschlecht und sozialer Stellung. Dieser Person wird Achtung und Respekt erwiesen. Dabei variieren die Respektsbekundungen nach Kontext. Sie manifestieren sich im sichtbaren Verhalten. Für die eine Familie ist es akzeptabel, wenn in Diskussionen/Entscheidungen z.B. dem Vater widersprochen wird, in anderen Familien gilt dies als respektlos und wird sanktioniert. Für die einen ist Widerspruch nur im engsten Familienkreis erlaubt, für die anderen auch öffentlich.
Die geachtete Person kümmert sich um die Belange der Angehörigen. So kommt es typischerweise zu einer rollenspezifischen Aufgabenverteilung in der Familie. Die Autoritätspersonen (Vater, großer Bruder, Mutter) sorgen für die Kleinen (jüngere Geschwister, Mädchen). Mitspracherechte und Aufgabendelegation werden je nach Rang und Ansehen verteilt. Zwischen ältester Schwester und jüngerem Bruder besteht eine relative Gleichheit. Der Vater gilt oft als normative Instanz, währende die Mütter oft die faktische Erziehungsverantwortung ausüben. Überhaupt haben Mütter eine besondere Bedeutung und erfahren die Zustimmung ihrer Söhne auch nach deren Eheschließung. Die Schwiegertochter wird als „Gelin“ bezeichnet „die ins Haus Gekommene“.
Welches Verhalten eine Person zeigt, ist abhängig vom Geschlecht des Interaktionspartners und seiner Zugehörigkeit zum inneren/familiären oder äußeren/öffentlichen Lebensbereich.
Namuz (Ehre)
Namuz regelt das Verhalten der Geschlechter zueinander, vor allem im Überschneidungsbereich
„öffentlicher und privater/familiärer Raum“. Als Verhaltenskodex bestimmt es, welche Familien, Frauen oder Männer als ehrenhaft und damit als gesellschaftlich angesehen gelten. Dabei ist zu beachten, dass eine Person nicht aus sich heraus etwas gelten kann. Erst durch die Anerkennung und Respektsbezeugung von außen wird die soziale – ehrenhafte – Identität gebildet. Erfolgt diese Zuschreibung z.B. „temiz aile kizi– sauberes Familienmädchen“ zeigt sich dies auch darin, dass die Geschlechtergrenze gewahrt bleibt. So bilden sich individueller Stolz und gesellschaftliches Ansehen.
Familienmitglieder orientieren sich in ihrem Verhalten an den vorherrschenden Regeln. Was ehrenhaft ist und wie Verstöße geahndet werden, richtet sich danach, welcher sozialen Gruppe die Familie angehört. So ist es für ein Mädchen evtl. in einer ländlichen Region zwingend erforderlich, die Straße zu wechseln, wenn ein Junge ihr entgegen kommt. Für eine andere junge Frau und ihre Umgebung ist es völlig akzeptabel, allein in einen Club zu gehen.
Männer begreifen Angriffe auf die Geschlechtszugehörigkeit ihrer weiblichen Familienmitglieder auch als eigene Ehrverletzung. Dahinter steht die Auffassung, dass ein Mann für seine Ehre eintreten kann. Für den Erhalt der Ehre einer Frau muss ein Mann Sorge tragen, weil man davon ausgeht dass das“ unangemessene“ Verhalten der Frau gegenüber in erster Linie von Männern ausgeht. Der «Schutz» oder die «Wiederherstellung der Ehre» obliegt diesem Verständnis nach männlichen Familienmitgliedern.
Seref
Seref ist der Aspekt von Ehre, der sich einerseits auf das Individuum als persönliche Würde bezieht. Andererseits hat er auch die Kraft eines gesellschaftlichen Strukturprinzips und sorgt für die Möglichkeit einer Gleichberechtigung zwischen den sozialen Einheiten. Ehre im Sinne von Seref bekommt man für Dienste an der Gesellschaft. Als ehrbar gelten Personen oder Berufe, die mit den deren Werten in Verbindung stehen, z.B. Lehrer. Wer den Rang eines „serefli adam – eines ehrbaren Menschen“ besitzt, ist verpflichtet, die Ehrbezeugung der Gemeinschaft wieder zu gute kommen zu lassen, z.B durch Großzügigkeit. Seref kann gesteigert oder vermindert werden und kann auch vererbt werden, Seref/Ehre ist erblich, weil es oft auch um Abstammung, historische Wurzeln und Verbundenheit mit der Geschichte geht. Ehrbar/serefli ist nur eine Person, die in den Augen der anderen auch als ehrenhaft/namuzlu gilt. Aber nicht jede ehrenhafte Person ist auch ehrbar/serefli.
Die Texte stammen von Martina Simon. Sie arbeitete mehrere Jahre in Istanbul im Bildungssektor und spricht fließend türkisch. Ihre Kernkompetenz liegt in der Kommunikation. Die GIZ und die Autorin ist informiert worden, dass das ehemalige Länderportal auf meiner touristischen Länderseite zur Türkei zumindest textlich weiterbesteht.