Innenpolitik

Innenpolitische Themen

Stellung des Militärs

Das Militär galt lange als Stabilisator und Garant für Ordnung, Sicherheit und für die Einhaltung des staatstragenden Laizismus- Prinzips. Es war gesellschaftlich anerkannt, vor allem in Zeiten politischer Instabilität, wechselnden Regierungen und parteipolitischer Auseinandersetzung galt es in den Augen der Bevölkerung als Institution des Vertrauens.

Die enge Verzahnung zwischen Militär und Staatsapparat ist einerseits durch Atatürk entstanden, der selbst der militärischen Elite entstammte. Aber auch der Gründungsmythos des Staates, die militärische Befreiung von ausländischen Mächten, ermöglichte die unangefochtene Stellung im Staat. Im Osmanischen Reich war das Militär Motor für Modernisierung und Reform.

In den vergangenen 90 Jahren erwies sich das Militär mehrmals als Hüter der Verfassung, putschte dreimal und gab die Macht anschließend wieder zurück. Auch noch 1997 erwies es sich noch so stark, dass ein „Memorandum“  auf der eigenen Website bezogen auf die religiös-fundamentale Regierungspartei Fazilet-Partisi als Putschdrohung verstanden wurde und diese in Folge einem Verbotsverfahren unterzogen wurde.

Seit 2005 sind Ansehen und Einfluss gesunken, sichtbar auch am vergeblichen Versuch, die Wahl Abdullah Güls 2007 als Staatspräsident zu verhindern und die Regierungspartei einem Verbotsverfahren (2008) auszuliefern. Als der Generalstab im September 2008 als Protest auf die Inhaftierung einer hohen Anzahl von militärischen Führungspersönlichkeiten im Zuge des Ergenekon- Verfahrens mit Rücktritt drohte, nahm Erdogan das Angebot an und besetzte binnen einer Woche das Gremium neu.

Wie der sinkende Einfluss des Militärs zu bewerten ist, hängt von der Perspektive ab. Für die nationalen Kräfte (CHP, MHP) ist es ein weiterer Beleg, dass Erdogan und seine AKP religiösen Einfluss auf Kosten des Laizismus mehren wollen. Sie sehen darin einen Angriff und eine Schwächung der Staatsnation und einer seiner tragenden Säulen. Für die anderen ist die mangelnde demokratische Legitimation des Militärs Grund genug, dessen Macht zu verkleinern. Die Reformen sind auch im engen Zusammenhang mit den von der  EU vorgegebenen Standards zu sehen, denen zufolge das Militär beschränkten und kontrollierten Einfluss auf staatliches Handeln haben soll und sind somit als positives Zeichen für Demokratisierung zu sehen.

Ein neues Kapitel der schwierigen Beziehung zwischen Politik und Militär wurde im Juli 2016 geschrieben, als die Nachricht eines 4. Militärputsches, der den Sturz der AKP-Regierung zum Ziel haben sollte, bekannt wurde. Mehr als 250 Menschen verloren ihr Leben, als Angehörige der Streitkräfte strategische Posten im Land besetzten und ihre Botschaft der militärischen Machtübernahme über die Fernsehkanäle ausstrahlen ließen. Der Versuch wurde jedoch noch in derselben Nacht beendet. Die Putschisten sollen dem Gülen-Lager nahestehen, dem nachgesagt wird, dass es seit 40 Jahren alle Institutionen unterwandere und gegen Erdogan und die AKP opponiere. 

Im Zuge der Ereignisse kam es zu Massenverhaftungen und Entlassungen innerhalb der Streitkräfte und anderer staatlicher Institutionen wie dem Bildungsbereich. Fethullah Gülen, der Gründer der Bewegung, bestreitet den Zusammenhang zwischen seiner Organisation HIZMET und dem Putsch. Putschgerüchte kursierten bereits vorher.

Der Militärdienst spielt bei der gesellschaftlichen Identifikation mit dem Staat eine große Rolle, gilt als Sozialisationsinstanz. In den Kasernen wird nationales Gedankengut vermittelt, „Mehmetcik“ werden die Soldaten liebevoll genannt. Dabei war die Armee nie in größere internationale Krisen eingebunden. Der Feind wird eher im Inneren gesehen: separatistische Bestrebungen in den Kurdengebieten des Südostens. Die Ableistung des Militärdienstes gilt je nach Schicht und Region als Initiationsritus und Reifeinstrument, eine Voraussetzung für Eheschließung oder beruflichen Start. Verweigerern wird wenig Verständnis entgegengebracht. So gibt es keine gesetzliche Grundlage, den Dienst an der Waffe zu umgehen, Freikäufe sind unter bestimmten Umständen möglich.

Religion versus Laizismus

Die Türkei ist Kraft ihrer Verfassung ein laizistischer Staat. Politik, Militär, Justiz, Verwaltung und säkulare Bildungseliten hielten die Pfeiler der türkischen Nation hoch. Die Tatsache, dass 99% der Türken religiös waren und Religion ausüben wollten, blieb lange außerhalb der politischen Diskussion.

In den 70er Jahren gab es den 1. Versuch einer Synthese zwischen Islam und nationalem Bewusstsein (Türk-Islam-Sentezi), initiiert vor dem Hintergrund der blutigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen. Ende der 80er Jahre verlor diese Perspektive an Popularität, blieb jedoch dem Gedankengut ultranationalistischer Gruppierungen erhalten.

Mit Necmettin Erbakan betrat ebenfalls in den 70ern der politische Islam die öffentliche Bühne. Mit der Gründung der Milli Görus Bewegung (Nationale Sicht) startete der Versuch, Religion als Weltordnung zu etablieren. Die von ihm gegründeten Parteien (Milli Nizam Partisi, Milli Selamet Partisi, Refah Partisi, Fazilet Partisi) sahen sich mehrfach einem Verbotsverfahren ausgesetzt, weil sie der offiziellen Staatsdoktrin widersprachen. Er selbst war mehrfach an Regierungskoalitionen beteiligt, war sogar von 1996-1997 Ministerpräsident. 2001 wurde die Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) als Nachfolgepartei der Fazilet Partisi gegründet. Die derzeit regierende AKP ist aus einem Reformflügel entstanden und hat sich von der Mutterpartei Saadet Partisi auch ideologisch abgespalten. Sie vertritt eine wertkonservative religiöse Politik, keine islamistische. Damit ist sie die Gegenspielerin zur CHP, die sich als Wächterin der Republik und ihrer Prinzipien versteht.

Die Lagerbildung in religiös und laizistisch spaltet Staat und Gesellschaft derzeit. Politisches Handeln scheint darauf ausgerichtet zu sein, dem politischen Gegner zu schaden, Macht und Einfluss zu mehren und die Öffentlichkeit auf die eigene Seite zu ziehen. Die Presse spielt hier eine verstärkende Rolle. Auch sie gehört der einen oder anderen Fraktion an und richtet ihre Berichterstattung danach aus. Gleichzeitig sieht sie sich aber auch der Gefahr ausgesetzt, bei unliebsamer Berichterstattung einem juristischen Verfahren ausgeliefert zu werden.

So hat die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teile ein bislang unbekanntes Maß erreicht.Das Festhalten an den rigiden Positionen hat viel mit den Gründungsmythos zu tun, der Religion als Privatsache in dem Sinne versteht, dass der Staat entscheidet, wann und in welchem Maß Religion öffentlich wird. Im Verständnis des bestimmenden Säkularismus ist individuelle Religionsausübung zwar erlaubt, als Kollektiv bzw. Einzelner als Vertreter darf Religion nicht sichtbar sein (Freiheit von Religion).

Die AKP vertritt jedoch die Haltung des passiven Säkularismus (Freiheit der Religion), der besagt, der Staat hat Neutralität gegenüber jeder Form der Religionsausübung zu wahren, solange dies nicht auf die Gestaltung der öffentlichen Ordnung gerichtet ist. Somit ist der Staat laizistisch, nicht der Einzelne – die daraus erhobene Forderung verlangt das Recht auf die volle individuelle und öffentliche Religionsfreiheit, ohne dabei den säkularen Charakter des Staates in Frage zu stellen.

Neben Macht, Status und Ideologie gibt es aber auch die Befürchtung einer schleichenden Islamisierung der Türkei. Säkulare Eliten und großstädtische Intellektuelle tragen Sorge, dass allein durch den konservativen Traditionalismus der Massen die religiöse Alltagspraxis eine dominante Rolle annehmen könne und abweichendes Verhalten zunehmend stigmatisiert würde, ohne dass das Verfassungsprinzip zu ändern sei.

Die Kurdenfrage

Aktuelle Situation und Bedeutung des Konflikts

Die Kurden machen ca. 20% der Bevölkerung (10-15 Mio.) aus. Die Zahlen sind nur geschätzt, weil ethnische Herkunft und Muttersprache in den Volkszählungen nicht erfasst werden. Ihre Siedlungsgebiete befinden sind hauptsächlich im Südosten, in Zentralanatolien und durch Migration in den Ballungsgebieten der Großstädte. Sie gehören zur iranischen Volksgruppe und sprechen meist Kurmanci oder Sorani. 75% der Kurden gehören zu den Sunniten, 25% sind alevitisch bzw. yezidisch. Ihren Zusammenhalt erfahren sie in Clans, den Asiret, im Südosten oft mit feudalen Strukturen.

In ihrem langen Kampf um rechtliche, politische, kulturelle und gesellschaftliche Anerkennung haben sie bislang einige Fortschritte erreicht, z.B. ist die Verwendung der Sprache in privaten Bildungseinrichtungen möglich, die staatliche Fernsehanstalt sendet ein Programm auf Kurdisch. Ein Novum in der bisherigen Geschichte war die Verwendung von Kurdisch als Wahlkampfsprache 2011. Mit dem Einzug der HDP ins Parlament betrat zum ersten Mal eine offiziell gewählte kurdische Vertretung die politische Bühne.

Ökonomisch, bildungspolitisch und infrastrukturell muss noch viel Aufbauhilfe geleistet werden, um den Südosten an den Stand des Westens heranzuführen. Dazu ist aber das Problem rechtlich und politisch anzugehen. In einem größeren Zusammenhang betrachtet geht es um die Frage der weiteren Demokratisierung des Landes und wie der Staat mit seinen Minderheiten (ethnisch und religiös) umgeht. Insofern ist die Kurdenfrage eines der drängendsten Probleme des Landes. Bislang hat der Kampf 42.000 Tote auf beiden Seiten gefordert.

Geschichte der Spannungen

Im Vertrag von Sevres (1920) war ein autonomes Kurdengebiet in Anatolien durch die Alliierten vorgesehen, im Vertrag von Lausanne (1923) wurde das in Frage kommende Gebiet jedoch unter  den folgenden Ländern aufgeteilt: Türkei, Syrien, Iran, Irak. Im Verständnis des kemalistischen Nationalbegriffs wurde den Kurden kein expliziter Minderheitenstatus zugestanden, im Gegenteil: kulturelle und ethnische Unterschiede wurden negiert und ein hoher Assimilierungsdruck aufgebaut. Der Widerstand auf kurdischer Seite gegen laizistische Strömungen manifestierte sich in vielen Aufständen, die wirtschaftlich, religiös oder politisch motiviert waren und gewaltsam niedergeschlagen wurden.

1984 begann mit der Gründung der PKK (kommunistische Arbeiterpartei Kurdistans) ein neues  Kapitel der Auseinandersetzung. 1999 wurde Öcalan vor der griechischen Botschaft in Nairobi verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Seitdem befindet er sich auf der Gefängnisinsel Imrali. Im Zuge des Verfahrens wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt und längere Zeit eingehalten. Ab 2005 erfolgten Anschläge gehäuft aus dem Irak heraus – auch aus Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft den Konflikt demokratisch anzugehen. Das Militär reagierte mit Geheimoperationen, Panzereinsatz und Gewalt.

Erdogan sprach als erster Politiker davon, dass Kurdenproblem politisch zu lösen. Er initiierte 2009 die „Demokratische Öffnung“ mit dem Ziel der dauerhaften Überwindung des Konflikts durch eine generelle Demokratisierung der Bevölkerung. Hoffnung gab auch eine neue Friedensinitiative, die ihren ersten Meilenstein anlässlich des kurdischen Newroz-Fests im März 2013 erreichte, als Öcalan öffentlich und offiziell zum Waffenstillstand aufrief. Eingeschlossen darin der Appell an die Kämpfer, die Waffen abzugeben. Vorausgegangen waren geheime Treffen zwischen Regierungsvertretern, BDP-Mitgliedern und PKK-Angehörigen. Im Gegenzug versprach Erdogan, die Themenfelder kulturelle und ethnische Identität allgemeiner, d.h. weg vom türkischen Bürger hin zum Bürger der Türkei in den Diskussionsprozess zur neuen Verfassung zu einzubringen. Die AKP erhoffte sich dadurch die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung bei Wahlen. Gleichzeitig suchte die Regierung aber auch die Annäherung an die Wirtschaftskraft der Autonomen Region Kurdistans im Nordirak.

Seit Juli 2015 ist eine neue Eiszeit angebrochen, der zwei Jahre andauernde Waffenstillstand wurde aufgehoben. Die türkische Luftwaffe fliegt erneut Angriffe gegen PKK-Stellungen im Nordirak und im Südosten der Türkei, auch auf dem Boden finden Militäroperationen statt. Die PKK-Einheiten haben ebenfalls ihre Anschläge wieder aufgenommen. Bombenexplosionen in Ankara und Istanbul fordern zahlreiche Menschenleben. Diese werden der TAK, einer Splitterorganisation der PKK, zugeordnet.

Aktuelle Brisanz erhält das zerrüttete Verhältnis zwischen Türken und Kurden/Staat und PKK durch die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament. Die Kurden sehen sich ihrer legitimen Vertreter beraubt, vom Staat werden die Abgeordneten als Handlanger des Terrors stigmatisiert. Dies befeuert die Gewaltspirale zusätzlich.

Inzwischen wird  die Kurdenproblematik in der Türkei auch in Verbindung mit dem Krieg gegen den  IS auf auf syrischem und irakischem Gebiet gesehen, an dem sich kurdische YPG-Kämpfer erfolgreich und mit Unterstützung internationaler Verbände beteiligen. An der Nordgrenze ist so ein «kurdischer» Korridor entstanden, den die Türkei mit Sorge betrachtet und aus dieser Betrachtungsweise einen militärischen Angriff auf YPG-Einheiten in Afrin gestartet hat. Ein erneuter Einmarsch in Nordyrien im November 2019 sollte die Errichtung einer türkischen Sicherheitszone ermöglichen.

Gleichberechtigung für Aleviten

Die Aleviten machen geschätzte 20% der Gesamtbevölkerung aus. Sie gelten als muslimische Minderheit, die sich in zentralen Positionen von den Sunniten unterscheiden. Ausgrenzung erfuhren sie schon im Osmanischen Reich im Zwist zwischen osmanischer Zentralgewalt und den nomadisierenden Stämmen im Osten Zentralanatoliens, ihrem zentralen Siedlungsgebiet. Seit den 70er Jahren fanden verstärkt Migrationsbewegungen in die Großstädte statt, wo sich eine alevitische Mittelschicht bildete, zu der heute Anwälte, Ingenieure, Unternehmer, Journalisten zählen.

Traditionell sind sie Anhänger der CHP und der gemäßigten Linken, weil durch Atatürk ein Zurückdrängen des sunnitischen Glaubens aus dem öffentlichen Leben Staatsdoktrin wurde.

Seit 80er Jahren erheben sie Forderungen nach Gleichberechtigung ihrer Konfession. Unvergessen bleiben die Geschehnisse von 1993, als im anatolischen Sivas ein Kongress stattfand, bei dem ein sunnitischer Mob einen Brandanschlag verübte und mehrere Teilnehmer ihr Leben verloren. Unruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen folgten.

Benachteiligung erfahren sie auch durch die staatliche Verwaltung. Ihre Religion taucht weder im Einwohnermeldeamt auf noch ist sie in den Aktivitäten der sunnitischen Religionsbehörde präsent. Während das Diyanet die sunnitischen Prediger, Moschee-Vorsteher und Imame einsetzt und bezahlt, müssen die alevitischen Glaubensgemeinschaften selbst dafür aufkommen. Es gibt keinen Religionsunterricht für alevitische Schüler, diese müssen am Unterricht für Sunniten teilnehmen. Als Novum gilt die Tatsache, dass seit dem Schuljahr 2012 das Thema Alevitentum in sunnitische Unterrichtsbücher aufgenommen wurde.

Die Armenier

Die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern hat für die Türkei eine bedeutende Dimension. Sie berührt ein schwieriges Kapitel, das in den frühen Anfängen der Republik begann. Die damit verbundene kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ein neues Kapitel der Geschichtsschreibung rüttelt immer noch an den Grundfesten der türkischen Identität. Erdogan war der erste Politiker, der den ermordeten Armeniern sein Beileid ausgesprochen hat, einen Völkermord weist er vehement zurück.

Gleichzeitig hat dieses Thema auch eine außenpolitische Dimension, die Normalisierung der Beziehungen zum Nachbarland Armenien.

Reformbestrebungen des Rechtssystems

Die gesetzlichen und institutionellen Grundlagen des Justizsystems entsprechen im Wesentlichen dem von der EU im Rahmen der Beitrittsdebatte geforderten Standards. Die letzten Änderungen des Zivilrechts fanden 2001 statt, 2004 wurde das Strafrecht gründlich reformiert. Es soll die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe sichern. Hieß es früher: „Das Oberhaupt der ehelichen Gemeinschaft ist der Ehemann“, „Die Wahl des ehelichen Wohnsitzes obliegt dem Ehemann“, „Vertreter der ehelichen Gemeinschaft ist der Ehemann“, „Im Falle einer Uneinigkeit in der Vormundschaftsfrage ist dem Willen des Ehemannes Vorrang zu gewähren“, so gilt heute „Gütertrennung mit Errungenschaftsbeteiligung“ als gesetzlicher Güterstand. Das Heiratsalter ist auf 17 Jahre für beide Geschlechter angehoben worden. Freispruch nach einer Vergewaltigung, wenn der Täter in eine Eheschließung mit dem Opfer einwilligt ist nicht mehr erlaubt, Strafmilderung aus Motiven der Ehre ist nicht mehr gestattet.

Aber die Schaffung einer gesellschaftlichen Grundlage zur Umsetzung wurde nicht berücksichtigt. Noch immer gibt es Richter, Staatsanwälte und Anteile der Bevölkerung, denen das „alte Denken“ noch in den Köpfen spukt und die den neuen Geist der rechtlichen Reformen nicht mittragen.

Ebenfalls nur geringe Wirkung zeigten bislang Bemühungen, den Justizapparat effektiver zu machen. Klagen über mangelnde personelle und materielle Ausstattung und langandauernde Verfahren sind  zu vernehmen. Politische Verfahren nach § 301 (Verunglimpfung des Türkentums) oder Handlungen, die der Unteilbarkeit von Staat und Nation zuwiderlaufen, werden häufig verschleppt.

Ergenekon

Im Ergenekon-Verfahren (Beginn im Juni 2007) sind bis 2011 mehr als 300 Personen angeklagt worden, die sich an umstürzlerischen Aktivitäten und an der Vorbereitung eines Staatsstreichs beteiligt haben sollen. Ihnen wird vorgeworfen als paramilitärischer Geheimbund ohne dezidierte Führungsstruktur, Attentate und Anschläge verübt zu haben, um die öffentliche Ordnung auszuhöhlen, so dass durch das notwendige Eingreifen des Militärs ein Sturz der AKP erreicht werden kann. Unter den Angeklagten befanden sich ultranationalistisch gesinnte Vertreter der Bürokratie, der Justiz, hochrangige Militärs, Professoren, Journalisten, Unternehmer und Mitglieder mafiöser Vereinigungen. Die Anklageschrift war 2500 Seiten lang. Mehr als 200 Angeklagte wurden 2013 zu langen Haftstrafen verurteilt, die aber 2016 vom Gericht wieder aufgehoben wurden, weil Beweise nicht rechtmäßig beschafft worden seien.

Während die jüngsten Ergenekon-Aktivitäten gegen die religiöse Regierungspartei und ihnen nahe stehender Organisationen gerichtet waren – so vermutet man – standen in den 70er Jahren die Linken, in den 90er Jahren Kurden, die PKK und deren Sympathisanten im Mittelpunkt der verbrecherischen Anschläge. Ergenekon steht auch im Verdacht, für die Morde von drei christlichen Missionaren in Malatya im Jahr 2007, den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink im selben Jahr und die Ermordung des katholischen Priesters in Trabzon 2006 mitverantwortlich zu sein.

Zum ersten Mal wurde die Bevölkerung auf dieses Zusammenspiel von Verbrechen, Politik, Justiz und Militär aufmerksam, als 1996 bei einem Autounfall in Susurluk ein hochrangiger Polizei-Offizier und ein Auftragskiller gemeinsam ums Leben kamen. Die Ermittlungen förderten zu Tage, wie Angehörige des Netzwerks Bombenanschläge und Attentate durch Kriminelle durchführen ließen – mit Unterstützung höchster Ebenen.

Viele sahen die Aufarbeitung des „Staates im Staate“ als Symbol für ein Erstarken des Rechtsstaats, für Transparenz, ein Zeichen, dass die Willkür politisch motivierter Morde jetzt geahndet wird. In diesem Sinne begrüßten liberale Kreise, darunter viele Journalisten die Verfahren. Die Anhänger des „alten“ Establishments, die CHP-Opposition und großstädtische Intellektuelle sahen die Verhaftungen als Machtspiel, den Einfluss von Militär, Justiz, CHP zu schwächen und gezielt Regierungskritiker in den politischen Zirkeln und Medien auszuschalten.

Menschenrechte

Ab Mitte der 90er wurden mit dem Schwung des neu aufgenommenen EU-Beitrittsprozesses Reformen etabliert, die den Schutz der Menschenrechte, der Minderheiten und die Rechtsstaatlichkeit stärken sollten. Die Todesstrafe wurde 2002 abgeschafft – eine umstrittene Entscheidung, weil damit eine Hinrichtung des seit 1999 inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan verhindert wurde. Noch 2002 erklärte Recep Tayyip Erdogan «Null Toleranz» gegenüber Folter. 2005 wurde diese als Straftatbestand mit höheren Sanktionen im neuen Strafrecht verankert.

Seit 2005 hat sich die Lage jedoch wieder verschlechtert. Diese Einschätzung teilen auch Vertreter türkischer Menschenrechtsorganisationen. „Die Ausdehnung der Polizeiautorität nach 2005 und die Veränderungen im Anti-Terror-Gesetz 2006 haben zu unbefriedigenden Gerichtsverhandlungen in der Türkei geführt“, erklärte Metin Bakkalcı, Leiter der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) der

„Hürriyet“.

Seit den GEZi-Protesten (2013) und in Folge des Putsches (2016) sehen Experten die   Menschenrechte in der Türkei ernsthaft in Gefahr. Mehrere Regierungsangehörige haben sich für  eine Wiedereinführung der Todesstrafe für die am Putschversuch Beteiligten ausgesprochen. Die Türkei verhängte den Ausnahmezustand und setzte die Europäische Menschenrechtskonvention aus. Es kam zu Massenverhaftungen und Amtsenthebungen von bis zu 60 000 Staatsbediensteten in der Armee, Polizei, Justiz und im Bildungswesen. Von Misshandlungen in Polizeigewahrsam wird berichtet, Journalisten werden unter Anklage gestellt und Verlagshäuser geschlossen. 500 000 Kurden wurden im Südosten v.a. aus Diyarbakir vertrieben.

Der Jahresbericht von Amnesty International 2018 beschreibt u.a. 

Menschenrechtsverletzungen/Folter und deren Straflosigkeit gegenüber Journalisten, politischen Aktivisten und Menschenrechtlern

Selbstzensur von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, der Schließung ihrer Organisation oder der Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen gegen sie Einschränkung der Versammlungsfreiheit im Zuge des laufenden Ausnahmezustands Massenentlassungen

500 000 Binnenvertriebene aus dem Südosten Sammelabschiebungen von Flüchtlingen

Menschenrechtsorganisationen in der Türkei setzen sich für Stärkung der Bürgerrechte, der Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte ein:

TIHV

Mazlum-Der IHD

Die Texte stammen von Martina Simon. Sie arbeitete mehrere Jahre in Istanbul im Bildungssektor und spricht fließend türkisch. Ihre Kernkompetenz liegt in der Kommunikation. Die GIZ und die Autorin ist informiert worden, dass das ehemalige Länderportal auf meiner touristischen Länderseite zur Türkei zumindest textlich weiterbesteht.